Interview: Filmanfänge

In ihrem Buch STEVEN SPIELBERG – TIEFENSCHARFE ANALYSEN widmen sich die beiden Autoren sehr verschiedenen Aspekten seiner Filmkunst.

Zum Beispiel den ersten Minuten seiner Regiearbeiten.

Dafür hat Jörg Liemann einigen Aufwand betrieben. Co-Autor Jörg Breitenfeld befragt ihn dazu.

Jörg Breitenfeld: Du hast nicht nur alle Spielberg-Filmanfänge analysiert, sondern auch die Anfänge seiner Fernseharbeiten?

Jörg Liemann: Ja, im New Yorker Fernsehmuseum habe ich seine Zukunftsstory LA 2017 gefunden. Man sitzt da mitten in Manhattan in einem Fernsehsessel und kann die Bilder nach Lust und Laune vor- und zurückspielen. Auch Make Me Laugh habe ich dort vor ein paar Jahren erstmals gesehen, aber das gibt es inzwischen auch auf DVD. Was ich nur zu gern noch aufstöbern würde, das sind Spielbergs zwei Folgen aus der Serie The Psychiatrist.

Und es hat sich gelohnt, die Fernsehfilme einzubeziehen, also zum Beispiel den ersten Columbo?

Unbedingt. Ich habe mir die Frage gestellt: Hat Spielberg schon früher seinen Filmanfängen ein so großes Gewicht beigemessen. Und so ist es. Die nächste Frage war: Gibt es Parallelen zwischen alten und neuen Arbeiten? Und tatsächlich, es gibt unendlich viele. Der Columbo zum Beispiel beginnt ohne Musik, beinahe wie ein Stummfilm…

…ähnlich wie 44 Jahre später Bridge of Spies.

Genau. Es wird spannend sein zu beobachten, ob Spielberg mit seinem für 2017 datierten Filmprojekt Ready Player One auf filmische Mittel zurückgreift, die er bereits 1971 in LA 2017 verwendete.

Welche Bedeutung haben denn Filmanfänge, insbesondere für Spielberg?

Er will immer ein Zeichen setzen. Der Anfang legt den Grundstein für die Atmosphäre, für den Stil. Manchmal ist er ein Mikrokosmos, der entweder für sich allein stehen könnte – etwa der phantastische Vorspann zu Tintin –, oder in ihm verbirgt sich bereits der Schlüssel zur Deutung des ganzen Films. In Catch Me if You Can sehen wir ja sogar die Handlung vorweggenommen im Vorspann – Gott sei Dank in einer wunderbar verfremdeten Kartoffeldruck-Zeichentrick-Version.

Ähnlich wichtig wie die Filmanfänge sind doch die Finale?

Ja, und bei manchen Filmen baut Spielberg am Anfang bereits das Widerlager einer Brücke, die sich bis zum Ende spannt.

Was war für Dich die größte Überraschung bei der Analyse?

Zunächst dachte ich, wir stoßen nur auf wenige Parallelen zwischen den Filmen. Also etwa, dass sehr häufig Flugzeuge eine Rolle spielen. Es gibt aber reichlich mehr typische Spielberg-Requisiten, die immer wieder auftauchen. Und wahrscheinlich ließen sich weitere finden. Allerdings bezieht sich diese Feststellung nicht nur auf die Filmanfänge, sondern auf die Filme als Ganzes. Was die Anfänge angeht, so überrascht mich die Vielfalt der Einstiegs- und Erzählformen bei Spielberg.

Es gibt aber auch kritische Anmerkungen von Dir?

Natürlich. Ich kann Einleitungstexte in Filmen nicht besonders leiden. Gerade ein visuelles Genie wie Spielberg kann bewiesenermaßen mit Bildern erzählen. Der Rückgriff auf Texte ist da beinahe ein Armutszeugnis.

Oft will er damit betonen, dass es zu dem Film eine literarische Vorlage gibt.

Das wäre eine Erklärung. Aber oft ist er sich seiner Sache einfach nicht sicher: Bei Bridge of Spies kapiert jeder, dass es um den Kalten Krieg geht, das muss ich nicht auf die Leinwand schreiben.

Noch wichtiger ist ihm manchmal die Zeile „Nach einer wahren Begebenheit“.

Das wiederum finde ich nicht so problematisch.

Du bist an die Sichtung der Filmanfänge geradezu wissenschaftlich herangegangen…

Also, das Ergebnis soll in erster Linie der Unterhaltung dienen. Der intelligenten Unterhaltung, die sich aus genauer Betrachtung und überraschender Erkenntnis speist.

Und die Methode?

Klassisch geteilt in Beschreibung / Analyse / Wertung. Das Beschreiben ist wichtig, ich räume ihm bei einigen Filmen viel Platz ein. Der Grund ist: Wir sollten alle lernen, genauer hinzuschauen. Wie bei einem guten Gemälde gibt es auch hier mehr zu entdecken, wenn man Zeit investiert und den Blick schult. Bei Spielberg lohnt es. Man muss bei ihm nicht an der Oberfläche bleiben, man kann in die Tiefe gehen. Ich will in diesem deskriptiven Teil erst einmal zeigen, was alles da ist. Da staunt man manchmal schon.

Es folgt die Analyse…

Ja, hier konzentriere ich mich auf drei Fragen. Erstens: Welche filmischen Stilmittel verwendet Spielberg. Zweitens: Welche Requisiten lässt er auftauchen, die es auch in anderen seiner Filme gibt…

Das ist oft ziemlich witzig.

So soll es sein. Das reicht vom Spielzeugauto bis zur Sonne. Erstaunlicherweise kommt die Sternschnuppe nicht so häufig vor, wie manche glauben. – Die beiden ersten Fragekomplexe stehen in Stichworten vor dem Artikel zu jedem einzelnen Film. Normalerweise macht man das mit einer Analyse sonst nicht so, aber hier fungieren diese Begriffe wie ein Überschriftenblock oder eine Tags-Sammlung.

Und der dritte Teil der Analyse?

Drittens geht es um die Frage, welche Parallelen zu anderen Filmen, anderen Medien oder zu anderen Teilen des Films auffallen. Was ich insgesamt liefern will und worin Du mich ja unterstützt hast, das ist eine Analyse, die hinsichtlich der Filmanfänge wichtige Punkte hervorhebt. Eine vollständige wissenschaftliche Filmanalyse war nicht beabsichtigt, aber vielleicht dient unser Ansatz als Basis für weitere Arbeiten zu dieser Thematik.

Ist Dir die Wertung jedes Mal leicht gefallen?

Ich mag es nicht, wenn Menschen eine Meinung herausblasen, ohne zuvor Informationen zu sammeln und sie zu analysieren. Was ich hier als Wertung angebe, beruht meist auf der nachlesbaren Analyse. Insofern war es nicht schwer, zu einigen Kategorien Stellung zu nehmen und damit möglichst weitere Debatten anzuregen. Schwerer fiel mir am Ende die Wertung in Form von bis zu fünf Sternchen. Da bin ich dann in einer Mischung aus Verstand und Bauch herangegangen; also intuitiv. Es ist hart, Spielberg mal nur einen einzigen Stern zu geben. Aber es war notwendig, um die qualitativen Abstufungen hervorzuheben; und außerdem entspricht ein Stern bei ihm – sagen wir – bis zu drei Sternen bei einem durchschnittlichen Regisseur.

Der schlechteste Filmanfang aus Deiner Sicht?

Schlecht… Spielbergs schwächste Anfänge sind eben immer noch besser als die vieler anderer Regisseure. Enttäuschend beginnt Hook, diese langgezogenen Schultheater- und Baseballszenen. Ich bin auch nicht überzeugt vom Einstieg in Saving Private Ryan. Das ist nicht die Kriegssequenz am Omaha Beach, sondern der Veteran auf dem Soldatenfriedhof.

Und der beste?

Genial ist Empire of the Sun. Man hört einen Jungen ein walisisches Wiegenlied singen, dazu schwimmen auf den Wellen erst Blüten, dann Särge. Ein Schiffsbug bahnt sich den Weg durch die Särge, eine japanische Kriegsflagge erscheint. Das erzählt viel, wir sind gezwungen, die Bildsprache zu verstehen; zugleich sind wir verwirrt – das macht Spielberg gern.

Die Zuschauer am Anfang zu verwirren?

Ja, in Terminal zum Beispiel gibt es wilde Kameraschwenks, vertikal und horizontal, bis man gefühlt nicht mehr weiß, wo man im Koordinatensystem eigentlich ist. Genau so fühlt sich dann Tom Hanks im Terminal. Grandios ist auch Lost World, ansonsten nicht mein Favorit: dieser erzählende Schwenk vom Meer zur Champagnertafel, die bitterböse Geschichte und das Mädchen mit dem Imbiss, und schließlich der beste aller Cuts von Spielberg – auf Jeff Goldblum.

Lässt sich anhand der Filmanfänge eine Entwicklung bei Spielberg bemerken?

Er war schon in seinen frühen Jahren exzellent in diesem Metier. In Duel beginnt es mit der Perspektive in Stoßstangenhöhe. Bei Sugarland Express nimmt der Wegweiser mit den Myriaden von Pfeilen und Schildern das Autochaos vorweg. Ab 1984 will er die Zuschauer vor allem verblüffen, etwa mit dem chinesischen Musical im zweiten Indy-Film. Oder gar schocken: In Color Purple spielen und singen Kinder auf der Blumenwiese, bis ein junges Mädchen heraustritt und wir sehen, dass sie schwanger ist. Danach öffnet Spielberg sich, die Anfänge werden vielfältiger. Schindler’s List zeigt nach der farbigen Eingangssequenz Stempel und Schreibmaschine – die Bürokratie als Bestandteil der Massenmordmaschinerie.  

Sind einige Filmanfänge besser als der Film selbst?

Manch ein etwas lauerer Plot reizt Spielberg offenbar dazu, den Auftakt visuell besonders orchestral zu gestalten, ja. Die Selbstparodie in 1941 ist zurecht in die Filmgeschichte eingegangen. War of the Worlds ist streckenweise ein Katastrophenfilm mit bekannten Bildern, aber der Anfang, die Überblendungen Ampel/Wassertropfen/Erde, die mit dem Filmende korrespondieren, überstrahlt das. Oder Indy IV, mit einem rasanten Start voller Überraschungen. Hingegen, wenn ein Film ihm wirklich wichtig ist, auch mit seinen leisen Tönen und Ambivalenzen, dann nimmt sich Spielberg am Anfang erheblich zurück. Munich zum Beispiel hat, abgesehen von den Städtenamen, keinen spektakulären Einstieg. Denn das Attentat auf die Sportler soll zwar gezeigt werden, aber dann geht es um etwas völlig anderes, nämlich um die Aktionen des israelischen Geheimdienstes. Auch Bridge of Spies läuft sehr leise an, ist somit aber ein guter Auftakt für das Kammerspielartige dieses Films.

Glaubst Du, schon alles über die Filmanfänge herausgefunden zu haben?

Nein. Kürzlich gab uns Paul Bullock vom Blog FromDirectorStevenSpielberg.tumblr.com einen entscheidenden Hinweis zu Bridge of Spies. Ich sah nur, dass es da wieder mal um Gemälde geht, wie schon in Eyes oder im Columbo. Doch er wusste, dass die Einstellung mit dem Maler auf einem Gemälde von Norman Rockwell basiert. Wie andere Einstellungen des Films ja auch. Ich denke, es gibt – selbst wenn man sich nur auf die Filmanfänge konzentriert – noch viel herauszufinden. Wäre toll, wenn mehr Leute sich an der Diskussion beteiligen.

Du schreibst auch Romane. Hast Du bei der Beschäftigung mit Spielbergs Filmanfängen etwas gelernt für künftige Romananfänge?

Romananfänge sind mindestens so wichtig wie Filmanfänge, das weiß jeder. Ich fühle mich durch Spielberg in der Methode bestätigt, dass man die Leserschaft am Anfang ein wenig verwirren darf oder sogar muss. Manche Lektoren finden das nicht so gut, aber man sieht, dass selbst ein angeblich so populärer Regisseur Lust hat, uns hinters Licht zu führen. Dann diese mehrfache Bedeutung eines Anfangs, seine innere Schichtung. Insgesamt halte ich es aber mit Vorbildern so: Sie sehr genau studieren, dann möglichst die Details vergessen und mit der eigenen Arbeit beginnen; was gut ist, wirkt dabei im Hinterkopf weiter.

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